Aus der "kleinen, aber lautstarken Minderheit" sei mittlerweile ein "nahezu unüberschaubares Geflecht von Initiativen und Vereinigungen" erwachsen, bei denen häufig nicht mehr direkt ersichtlich sei, wer dahinterstecke, erklärt Matthias Pöhlmann.
Bild: unsplash/markus spiske
Querdenker-Bewegung
"Für körperliche und geistige Abstandsregeln"
Der Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen der bayerischen evangelischen Landeskirche, Matthias Pöhlmann, beobachtet schon länger die Vernetzung von Esoterikern, Rechtsextremen und der „Querdenker“-Bewegung im Zuge der Corona-Proteste. Im Oktober erschien sein Buch „Rechte Esoterik“. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklärt er, wie sich Rechtsextreme die Corona-Spaziergänge zunutze machen und wann es wichtig ist, eine rote Linie zu ziehen.
epd: Auch vergangenen Montag sind bei sogenannten „Spaziergängen“ in zahlreichen deutschen Städten wieder Corona-Leugner und Impfskeptiker auf die Straße gegangen, teilweise kam es bei den Protesten auch zu Gewalt. Wie verändert sich hier gerade die Art und Weise der Corona-Proteste?
Pöhlmann: Die ursprüngliche „Querdenker“-Initiative von Michael Ballweg ist in die Krise geraten. Dafür ist die Zahl der sogenannten Spaziergänge gestiegen. An über 250 Orten in Bayern wird nun regelmäßig dazu eingeladen. Die Hoffnung der Organisatoren ist, dass sich mehr Menschen anschließen, wenn die Demonstrationen auch in kleinste Städte kommen. Die Spaziergänge auf viele kleine Orte zu verteilen ist auch eine Strategie, um die Polizei lahmzulegen.
epd: Wer sind die Menschen, die an den Spaziergängen teilnehmen?
Pöhlmann: Die Szene ist sehr heterogen und auch örtlich unterschiedlich. Manche Menschen haben einfach Angst vor der Impfung und vor einer Impfpflicht. Es gibt Wissenschaftsskeptiker, Verschwörungsgläubige, Menschen mit Bezug zur Esoterik, die das Narrativ einer „Corona-Diktatur“ teilen und sehr staatsfern sind. Und es gibt auch Rechtsextreme, die die Proteste gezielt für eigene Zwecke nutzen, vor allem in Ostdeutschland.
Matthias Pöhlmann
Rechte Esoterik
Sie sind auf den »Querdenken«-Demonstrationen zu finden und überfluten mit ihren Botschaften die sozialen Netzwerke. Sie haben ihre eigenen Kirchen, ihre eigenen Bauernhöfe und ihre eigene »Germanische Neue Medizin«. Von der Anastasia-Bewegung bis zu QAnon: Rechte Esoteriker gewinnen immer mehr Zulauf. Nicht nur in Deutschland. Der Weltanschauungsexperte Matthias Pöhlmann, exzellenter Kenner der Szene, nennt die historischen Wurzeln und zeigt: Was auf den ersten Blick als harmlose Spinnerei erscheint, birgt immensen gesellschaftlichen Sprengstoff.
Bestellinformation:
192 Seiten/gebunden
ca. 20,60 €
ISBN 978-3-451-39067-8
Erscheint am 12. Oktober 2021
epd: Wie zeigt sich die Vernetzung von Rechtsextremen mit den Corona-Protesten?
Pöhlmann: Bei einigen Spaziergängen sind beispielsweise Vertreter der rechtsextremen Partei „Der Dritte Weg“ vorneweg gelaufen oder Rechtsextreme, die man in den neunziger Jahren zuletzt gesehen hat. Die Einladungen zu den Spaziergängen werden auch in rechtsesoterischen Online-Gruppen geteilt, etwa von der Anastasia-Bewegung oder der Freilerner-Bewegung. Sie versuchen, lokale Vernetzungen voranzutreiben und rufen zum Widerstand gegen das System auf.
epd: Wo kommt dieser Hass auf „das System“ her?
Pöhlmann: Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom Juni 2021 vertraute ein Drittel der Befragten eher auf die eigenen Gefühle als auf die Meinung von Experten. Sicherlich gab es zu Beginn der Pandemie auch widersprüchliche Aussagen von Wissenschaftlern, aber so funktioniert Wissenschaft eben! Manche Menschen haben aber das Gefühl, dass Medien, Politik und Wissenschaft „unter einer Decke“ stecken und dass sie niemandem mehr trauen können. Die Isolation durch Kontaktbeschränkungen und die Existenzsorgen haben bei vielen Menschen zu einem extremen Gefühl von Kontrollverlust und Ohnmacht geführt. Das schreit dann nach Bewältigungsstrategien.
epd: Sie sind Beauftragter der Bayerischen Landeskirche für Weltanschauungsfragen. Inwieweit hängen die Demonstranten einer eigenen Weltanschauung an?
Pöhlmann: Es herrscht ein prinzipielles Misstrauen in der Szene, das als sinnstiftend empfunden wird. Es geht auch viel um Komplexitätsreduktion, also um die Suche nach einfachen Antworten auf Fragen wie „Wer ist schuld?“ Da werden dann einzelne Personen wie Bill Gates oder George Soros ebenso genannt wie „die Pharmaindustrie“ oder „die Rothschilds“, ein bekannter antisemitischer Reflex. Solche Feindbilder entlasten auch. Ich spreche am Liebsten von Verschwörungsglauben, weil es sich bei manchen um ein geschlossenes Denk- und Glaubenssystem handelt.
Christine Jahn, Matthias Pöhlmann (Hrsg.)
Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen
In der religiös-weltanschaulichen Vielfalt der Gegenwart gibt dieses Werk Orientierung, verlässliche Information und Rat. Freikirchen, Sondergemeinschaften und pfingstlichen Bewegungen, moderne Esoterik, religiöse Strömungen aus Asien und Anbieter von Lebenshilfekonzepten in Ursprung, Lehre und Wirkung werden durchschaubar gemacht. Von der großen Bewegung zur eigenwillig geprägten Kleingruppe: Sachlich und sensibel, aktuell, ausgewogen mit klarem Profil.
Bestellinformation:
Verlag: Gütersloher Verlagshaus (23. November 2015)
ISBN-10: 3579082248
ISBN-13: 978-3579082240
epd: Erwarten Sie, dass es zu einer weiteren Radikalisierung von Corona-Leugnern kommen wird?
Pöhlmann: In Einzelfällen ja. Wir haben schon verschiedene Eskalationsstufen gesehen, etwa Bilder von Politikern in Sträflingskleidung, die auf Demonstrationen gezeigt wurden, Aufmärsche vor Privathäusern von Politikern, Todesdrohungen, bis hin zur Ermordung eines Tankstellenmitarbeiters in Idar-Oberstein. Aber insgesamt glaube ich nicht, dass unsere Demokratie gefährdet ist. Es ist eine lautstarke Minderheit, aber immer noch eine Minderheit, die sich hier über verschiedene Formen wie die Spaziergänge Gehör zu verschaffen versucht.
epd: Wenn ich die Corona-Maßnahmen als ungerecht empfinde und dagegen demonstrieren möchte, kann ich das überhaupt noch tun, ohne mich von rechten Tendenzen vereinnahmen zu lassen?
Pöhlmann: Kritik ist wichtig und das Demonstrationsrecht ist es auch - aber nicht, wenn es zu Hass und Gewalt kommt. Ich plädiere für körperliche und geistige Abstandsregeln: Wenn auf einer Demonstration Transparente der Partei „Dritter Weg“ auftauchen, ist eine klare Distanzierung notwendig, dann sollte man da nicht mitlaufen.
epd: Was kann die Mehrheit gegen die radikalen Corona-Leugner tun?
Pöhlmann: Es gibt mittlerweile schon Gegendemonstrationen, auch klare kritische Stellungnahmen wie die vom Bündnis „München ist bunt“, das sich von rechten und Verschwörungsideologien distanziert und sich für Zusammenhalt und Demokratie einsetzt. Ein gutes Beispiel sind auch die Friedensgebete des Schweinfurter Dekans Oliver Bruckmann, der den Verschwörungsideologen nicht das Feld überlassen will.
epd: Was kann die Kirche noch gegen diese Tendenzen tun?
Pöhlmann: Es ist wichtig, dass die Kirche ihre Stimme erhebt. Die Kommunikation des Evangeliums heißt ja, für Frieden einzutreten, für Gottes- und Nächstenliebe. Es braucht jetzt vertrauensbildende Maßnahmen. Die Kirche sollte Orientierung geben, wie die Menschen mit solchen Krisen umgehen können. Sie kann Seelsorge, Beistand, Beratung bieten. Ein Eintreten für Solidarität und gegen die Tendenz der Entsolidarisierung finde ich ganz wichtig.
epd: Was raten Sie Menschen, deren Angehörige oder Freunde in Verschwörungsglauben abdriften?
Pöhlmann: Der Druck für Angehörige von Corona-Leugnern ist immens, es kommt zu Verwerfungen in den Familien, zu Kontaktabbrüchen. Man sollte trotzdem versuchen, im Gespräch zu bleiben - wenn das soziale Umfeld wegbricht, können diese Menschen mit niemandem mehr reden und suchen sich umso mehr nur noch Gruppen, die ihre Ansichten teilen. Teilweise ist es aber sicherlich schwierig, die Menschen noch zu erreichen. Es ist auch wichtig, rote Linien zu ziehen, etwa, wenn es um Antisemitismus oder Gewalt geht. Angehörige können sich Hilfe holen bei kirchlichen Fachstellen für Weltanschauungsfragen oder zu Selbsthilfegruppen gehen, die ihnen zeigen: Du bist nicht allein, andere sind auch betroffen.
epd: Wie wird sich diese Protestszene in Zukunft entwickeln?
Pöhlmann: Verschwörungstheoretiker und neurechte Gruppen gab es ja bereits vor den Corona-Protesten. Die suchen sich immer neue Themen, auf die sie aufspringen können. Beim Klimaschutz oder beim Ökolandbau ist das teilweise schon der Fall. Da versuchen sie unter dem Deckmantel eines sogenannten „Heimatschutzes“, diese Bewegungen für ihre Zwecke zu vereinnahmen.
Weltanschauungen News Sonderausgabe 3
Evangelische Orientierung inmitten weltanschaulicher Vielfalt - Regionalteil Bayern
Der bayerische Regionalteil dieser Orientierungshilfe, der ständig erweitert werden soll, nimmt unterschiedlichste weltanschaulich-religiöse Strömungen und Gruppen in den Blick, wie sie insbesondere im Bereich der bayerischen Landeskirche anzutreffen sind.
Bestellinformation:
Herausgeber der WAS NEWS: Arbeitskreis Apologetik der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern; Erscheinungsort: München, WAS-News erscheint einmal jährlich.
Handreichung herausgebracht
Damit die Einordnung solcher neuen und immer undurchsichtigeren Strömungen leichter fällt, hat die Landeskirche gemeinsam mit der Konferenz der Landeskirchlichen Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine neue Broschüre herausgebracht. Die Handreichung "Evangelische Orientierungen inmitten weltanschaulicher Vielfalt" will diverse christliche, religiöse und weltanschauliche Bewegungen darstellen und aus evangelisch-christlicher Perspektive bewerten, erläuterten drei kirchliche Experten bei der Präsentation.
Die Broschüre sei weder als "schwarze Liste" noch als "gelbe Seiten" zu verstehen, betonte Pöhlmann. Vielmehr solle sie eine Orientierungshilfe geben. Zusätzlich zu einem deutschlandweiten Stammteil gibt es einen Regionalteil, der sich den in Bayern besonders aktiven Gemeinschaften widmet, ergänzte Bernd Dürholt von der Beratungsstelle für Neue religiöse Bewegungen im Dekanatsbezirk München. Neben der Initiative Querdenken wird in dem Papier auch zu Phänomenen wie Halloween, Achtsamkeit, Yoga, Schamanismus oder der Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters Stellung genommen.
09.01.2024
epd/Imke Plesch
Literaturtipp
Weltanschauungen News Sonderausgabe 1
Evangelische Orientierungen inmitten weltantschaulicher Vielfalt
Die vorliegende Orientierungshilfe ist eine Handreichung für evangelische Kirchengemeinden. Sie will Hilfestellungen zur eigenen Urteilsbildung geben, wenn es beispielsweise Anfragen gibt nach gemeinsamen Veranstaltungen, zur Raumvergabe, zu Doppelmitgliedschaften wie auch zu kirchlichen Handlungsfeldern (Taufen, Segnungen, Trauungen, Beerdigungen) und zur Seelsorge.